IndienReisen

Abenteuer am Zoji La: Käsefüße, Schafsherden und Höhenflug

Der Zoji La Pass in Indien gilt als eine der gefährlichsten Straßen der Welt. Ohne das zu wissen, habe ich ihn im Mai 2017 zu Fuß überquert.

Das Abenteuer beginnt mit einer der schlimmsten Nächte meines Lebens. Der hornhäutige Fuß, welcher mir gerade leidenschaftlich durch das Gesicht gezogen wurde, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich musste raus hier. Die raue Sohle fühlte sich an wie der Bims-Stein an der Badewanne meiner Mutter und hinterließ zusätzlich einen käsigen Nachgeschmack auf meiner Lippe. Dabei gibt es nicht einmal Käse in diesem Kaff.

Die Alpen wären sicherlich entspannter gewesen. Da gäbe es keine zugeschütteten Gebirgspässe und keine sechs Inder, die es sich in einer kleinen Knutschkugel gemütlich machen. Und auch keinen deutschen, viel zu großen Idioten, der sich mit dazu quetscht. In den Alpen wüsste die Polizei genau, was sie zu tun hat und mein Hotelzimmer wäre beheizt und vielleicht sogar mehr als nur ein Rohbau gewesen.

Ich wandere über den Parkplatz und atme die kalte, frische Luft ein. Dann muss ich lachen. Natürlich muss alles so laufen, wie es gelaufen ist. Was wäre das auch für ein Abenteuer, einfach so mit einem Taxi über den Zoji La Pass nach Ladakh zu fahren? Ich hätte ja auch abwarten können, bis der Pass geöffnet ist und dann ganz entspannt mit den anderen Touristen Richtung Leh tingeln können. Aber ich wollte nicht planen. Ich wollte genau das: Losgehen und einfach mal wieder gucken, was passiert. Ein paar Städtenamen habe ich mir von meinem Couchsurfing-Host in Jammu geben lassen. Eine kleine Orientierung, wo es langgeht. Sonamarg, so heißt dieser Fleckchen Erde. Kaum mehr als eine Straße mit ein paar schäbigen, unbeheizten Hotels, wenigen kleinen Lebensmittelläden und einer Boutique, für fesche Wintermode aus dem letzten Jahrzehnt. Alles auf einer Höhe von 2800 Metern.

Sonamarg

Nach drei Tagen habe ich alles gesehen, habe mir die Lebensgeschichte von Wani, einem jungen Verkäufer, angehört. Täglich sitze ich in seinem Laden und wir reden. Entweder über den Konflikt in Kashmir oder über das langweilige Leben. Nun könnte man behaupten, dass es in Sonamarg wunderschön ist. Gerade, wenn im Frühling die Pflanzen blühen und man entlang der knappen Dreitausender zum nahgelegenen Gletscher trekken kann, ist es die pure Idylle. Aber nicht, wenn man zwölf Stunden am Tag im Shop sitzt. Und leider auch nicht, wenn man eigentlich weiter will. Schließlich ist noch nicht Frühling. Die Berge sind voller Schnee. Genau da liegt nämlich der Hund begraben, oder eher: Die Straße.

Der Grund warum ich hier seit Tagen festsitze ist nämlich der Zoji La Pass. Genauer: Der Schnee auf dem selbigen. Im Winter hält keine Kraft der Welt die Schnee- und Landmassen auf, welche alljährlich die Straßen des Himalayas überrollen. Erst wenn der Frühling kommt, machen sich emsige Arbeiter daran, die Straßen wieder zu räumen, die Schlaglöcher zu füllen und Passagen in zugeschüttete Pässe zu buddeln. Jahr um Jahr trotzen sie den Gewalten der Natur. Eine Sisyphusarbeit zum Hungerlohn.

Dementsprechend gibt es auch keine Garantie, wann der Zoji La wieder befahrbar ist. Gerüchte gibt es, Zeiträume auch. So bin ich hier gelandet, mit vielen Anderen. Alle lamentieren, nur die Polizisten an der Straßensperre sind die Ruhe selbst. Ihre Gelassenheit kommt wahrscheinlich von der Aussicht auf eine wesentlich unangenehmere Arbeit. In Kaschmir herrscht andauernder Bürgerkrieg. Kaschmiris gegen die indische Armee. Pakistanische Milizen heizen die Stimmung zusätzlich auf und mittendrin befinden sich die Polizisten. Einerseits treue Diener des Staates, andererseits auch Befürworter eines freien Kaschmirs. Oft sogar Sympathisanten einer pakistanischen Annektierung. Immer im Kreuzfeuer zwischen lokaler Autonomie und indischer Hoheitsmacht.

Da lebt es sich doch ganz gut, an einer Straßensperre in den Bergen. Ich verstehe mich ausgezeichnet mit den Uniformierten. Sie sind beeindruckt von meinem pakistanischen Visum im Pass, wollen alles über das nah-gelegene Nachbarland wissen. Dass es hinter der nahen Grenze weder besser noch schlechter ist als hier, das hören sie gerne. Es bedeutet Ruhe für den inneren Konflikt. So trinke ich auch mit ihnen Tee, werde sogar auf die Wache geladen. Doch keiner will mir erzählen, was eigentlich abgeht und wann es endlich losgehen kann. Vielleicht weiß es auch niemand. Es könnte ja die Gelassenheit stören, mal nachzufragen.

Straßensperre Zoji La

Man spürt jedoch, dass sich etwas tut. Mehr und mehr Fahrzeuge kommen in das kleine Dorf, die Straße und der Parkplatz sind komplett zugeparkt. Irgendwie hat sich irgendetwas herumgesprochen. Trotz vom Staat geblocktem Internet: Etwas liegt in der Luft, auch wenn niemand konkrete Informationen hat. Als ich mich mit einer Gruppe von sechs jungen Indern angefreundet habe, boten sie mir an, mit ihnen im Taxi zu fahren. Sie hatten einen Fahrer im Dorf angeheuert, der ihnen versprach, dass es gleich morgen früh losgehen sollte. Das Versprechen gaben sie an mich weiter. Zu siebt passten wir schließlich locker in den Fünfsitzer. Auch mit einem zusätzlichen Fahrer.

Auf Gutdeutsch gesagt: Die Nacht war scheiße. Zum ersten Mal habe ich erlebt, wo die indische Gastfreundlichkeit aufhört. Der Fahrer bot uns an, im Auto zu schlafen, schließlich könne es jederzeit losgehen. Angelockt von der Angst den Startschuss zu verpassen, sagte ich zu und gab meine Vier-Euro-Unterkunft im Dorf auf. Als der Fahrer am Abend die Autotür öffnete, geschah alles rasend schnell. Noch ehe ich mich versah, saßen die meisten meiner Schlafnachbarn auf den Sitzen. Nur einer ließ mich vor. „Wie nett“, dachte ich mir. Bis ich sah, dass ich automatisch auf den hinteren Mittelsitz gelotst worden war. Der einzige Platz ohne Kopfstütze. „Wird schon“, dachte ich. Als ich mich nach Stunden der Schlaflosigkeit aus Mangel an Alternativen über die Mittelkonsole gelegt habe, hatte ich dann schließlich irgendwann den besagten, rauen Fuß im Gesicht. Immerhin, zwanzig Minuten Schlaf waren es bis zum stinkigen Erwachen.

Ich gehe spazieren. Selbst beim langen Warten erlebt man hier noch etwas. Irgendwie war es auch sonderbar intim in diesem Wagen voller Arme, Beine und Körper. Wann kommen sich sonst schon wildfremde Menschen so nahe, wenn nicht, um gemeinsam ein Abenteuer zu bestreiten? Ein Gefühl der Menschlichkeit und Verbundenheit flammt in mir auf. Vielleicht geht auch nur langsam mein verschlafener Verstand mit mir durch.

Warten in Sonamarg

Einen Spaziergang mit anschließendem Kekse-und-Tee Frühstück plus Powernap-auf-einem-Plastiktisch später stehe ich wieder vor dem Polizisten. „Vielleicht heute Nachmittag. Vielleicht aber auch erst morgen.“ Wieder eine Nacht im Auto? Ich mache meine morgendliche Stippvisite im Shop von Wani. Der scheint wenig berührt von meinen Strapazen. Nichts gegen seine täglichen zwölf Stunden im Shop – für ein paar hunder Rupien am Tag. Stimmt auch wieder.

Irgendwann werde ich von einem fremden Mann angesprochen. Der Polizist suche mich, ich solle umgehend an der Straßensperre auftauchen. In Sekunden bin ich dort. „Schnell, hol deine Sachen, du fährst mit den Herren hier.“ Ähm was? Ein Jeep steht hinter der Straßensperre. Keine Zeit für Fragen. Meine Sachen liegen noch im Auto. Ich renne zum Parkplatz. Das Auto ist leer, die Türen abgeschlossen. Not macht erfinderisch. Irgendwie schaffe ich es, durch einen kleinen Schlitz im Fenster den Knopf der Tür anzuheben. Meine Sachen sind frei, ich renne zur Straßensperre. „Wer ist das, was soll ich machen?“ Der Polizist sagt nur: „Sie wollen los. Mach einfach was sie sagen. Das hier ist dein Taxi nach Ladakh.“ Er strahlt mich an. Und ich strahle zurück. Was für ein netter Kerl.

Die Herren im Taxi sind genauso nett. Nur sprechen sie kein Hindi und kein Englisch, dafür unterhalten wir uns durch Lachen. Sie sehen nach Bergleuten aus. Braune, wettergegerbte Haut und Gesichtszüge, die mehr an Nepal erinnern als an Indien. Der Himalya steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Nach zehn Minuten Fahrt bekomme ich zumindest eine Idee von ihren Absichten. Vor uns taucht eine Schafsherde auf. Und wir sammeln ein paar der Tiere ein. Ich teile mir die hintere Sitzbank mit zwei von ihnen. Drei passen zusätzlich in den Kofferraum. Ein bisschen drücken müssen die Herren schon. Lautes Mähen, weiteres Gelächter, Schafsabber tropft auf meine Hose. Die Situation ist skurril, noch immer weiß ich nicht genau, was vorgeht. Der Rest der Herde läuft einen (zu) steilen, schneebedeckten Hang hinauf. Wir drei Menschen und fünf Schafe folgen jedoch der Straße. Und lachen. Ich, weil ich nicht weiß was los ist. Und die beiden anderen, weil sie das sehen.

Schafsherde am Zoji La

Über gemeingefährliche Straßen fahren wir die Bergkämme entlang. Mehr Schlaglöcher als erkennbare Straße. Schaue ich aus dem Fenster, sehe ich nur einen steil abfallenden Berghang. Hunderte von Metern freien Fall würde es bedeuten, wenn doch einmal mehr als nur ein paar Kieselsteine unterm Reifen wegbröckelten. Später werde ich überall im Internet lesen, dass dieser Pass als einer der gefährlichsten in Indien gilt. Ohne diese Information, vertraue ich einfach der Erfahrung des Fahrers. Irgendwann geht es nicht mehr weiter. Hier liegt der Ursprung allen Wartens. Eine Lawine hat die Straße versperrt. Ein gelber Bagger buddelt unermüdlich weiter, während die Männer die gegenüberliegenden Berge anstarren und nach Schneeleoparden, Ziegen oder Bären Ausschau halten. Mittagspause.

Räumung des Zoji La

Eine halbe Stunde später lässt uns der Bagger durch. Doch bis ein Auto den Zoji La passieren kann, wird es noch zwei weitere Tage dauern. Daher holen wir die Schafe aus dem Wagen und machen uns zu Fuß auf. Über den von Tonnen von Schnee bedeckten Weg. Die beiden Hirten bringen mir die Schafssprache bei. Wookie- und Schnalzgeräusche. Wieder lachen wir uns schlapp. Bis sie mir schließlich mit Händen und Füßen erklären, dass sie warten werden. Ich solle ruhig weiter gehen.

Kurz bin ich verwirrt. Wohin? Aber sie lachen nur und bedeuten mir, keine Angst zu haben. Wir befinden uns ja schließlich nur auf einer ehemaligen Lawine auf 3.500 Metern Höhe. So hoch war ich noch nie zuvor gewesen. Angst hatte ich sowieso nicht. Eine naive Leichtigkeit hat sich meiner angenommen. Als die Lawine wieder zur Straße wird, wartet dort tatächlich ein Laster. Der Fahrer ist Soldat. Er fragt mich, ob ich Hirten gesehen hätte. Jetzt klärt sich auch auf, worauf die Männer warteten. Ein Teil der Herde ist zu Fuß über den Pass geklettert. Die schwachen Schafe haben wir über Umwege die Straße entlang mitgenommen. Hier am Laster sollten alle zusammengeführt und nach Ladakh transportiert werden.

Ladakh. Ich war also tatsächlich da. Das Dach Indiens, gefühlt näher an Tibet als am Subkontinent. Ich hatte tatsächlich den Zoji La zu Fuß überquert. Der Soldat bietet mir an, mit ihm zu warten, schließlich könne er mich später mitnehmen. „Es gibt doch nur diese eine Straße hier oder?“ frage ich ihn. Er nickt. „Dann bis später.“

Ich laufe viele Stunden die Straße entlang, völlig allein im weiß-blauen Licht des Himalayas. Nur ab und an treffe ich einen Straßentrupp. Sie lächeln mich an und bessern die Straße aus. Keiner ist erstaunt über meine einsame Wanderung. Wahrscheinlich haben sie schon Verrückteres erlebt auf dieser Straße. Irgendwann lasse ich mich von einem Militär-Jeep zur nächsten Polizei-Station mitnehmen.

Der Höhepunkt des Zoji La

Als mein Pass kontrolliert wird, teilt mir der zuständige Polizist mit, dass ich der erste Tourist in diesem Jahr sei. Sonst sei noch keiner über den Zoji La gekommen. Wir trinken Tee und essen Kekse. Dann organisiert der Polizist mir eine Mitfahrgelegenheit nach Kargil, der nächstgelegenen Stadt. Hier werde ich am nächsten Tag ein Motorrad mieten, mit dem ich meinen Weg in die Himalaya-Stadt Leh fortsetzen kann. Über menschenleere Straßen. Noch immer warten die anderen Touristen an der Straßensperre in Sonamarg. Ich sende all meine besten Wünsche in Richtung des Polizisten, der mir das hier ermöglicht hatte. Nur so nebenbei. Ein kleiner Schubser ins schönste Abenteuer meines Lebens.

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